Buch "Freie Software - zwischen Gemein- und Privateigentum" (Volker Grassmuck) Vorwort "Am Anfang war alle Software frei." Mit diesem Satz beginne ich häufig einführende Vorträge zum Thema Freie Software, da er verdeutlicht, daß Freie Software keinesfalls ein Phänomen der 90er Jahre ist, obwohl es teilweise gerne so dargestellt wird. Natürlich ist das auch nur die halbe Wahrheit. Anfangs machten sich die Beteiligten keine Gedanken um die Freiheit von Software, die nur als "Dreingabe" zur Hardware betrachtet wurde. Es läßt sich zu Recht sagen, daß die eigentliche Taufe Freier Software durch Richard Stallman vollzogen wurde, der 1984 das GNU-Projekt und 1985 die Free Software Foundation gründete. Dabei beschäftigte er sich zum ersten Mal mit der Frage, was Freie Software ist. Seine Definition Freier Software hat sich bis heute als die kompakteste und präziseste erwiesen. Doch obwohl Freie Software je nach Betrachtungsweise bereits seit ungefähr 20 bzw. 40 Jahren existiert, hat sie sich bisher dem Verständnis der meisten Menschen entzogen. Auch heute hat nur eine sehr kleine Zahl von Menschen Freie Software wirklich verstanden. Die vielfältigen Versuche, Freie Software zu beschreiben oder zu erklären, erschöpfen sich zumeist in reiner Phänomenologie. Und auch wenn sie zutreffend sind, sind Betrachtungen der Quelloffenheit ("Open Source") und des Entwicklungsmodells in vieler Hinsicht eher hinderlich, da durch sie von den essentiellen Fragen abgelenkt wird. Insofern ist es immer erfrischend, ein Buch in Händen zu halten, das sich mit beachtlichem Erfolg um eine ausgewogene und gründliche Betrachtung bemüht. Doch was ist nun Freie Software? Die einfachste - und doch in vieler Hinsicht unzureichendste - Antwort auf diese Frage liefert die Definition Freier Software. Oft gibt schon die Stellung einer Frage die Tendenz der Antwort vor und manchmal ist eine Antwort unbefriedigend, weil die falsche Frage gestellt wurde. Die Welt der Freien Software ist geprägt von Dualismen. Freie Software ist sowohl kommerziell als auch nicht-kommerziell und privat als auch öffentlich. Hinzu kommt, daß Software per se einen Dualismus darstellt. Sie ist nicht nur selber festgeschriebenes Wissen um Probleme und Problemlösungsstrategien, sie dient auch als Medium und Träger für Informationen und Erkenntnisse aller Art. Doch Software ist nicht nur abstraktes Wissen, sie ist auch kontrollierendes und ausführendes Organ in einem immer stärker von Computern durchdrungenen Alltag. Ihre Omnipräsenz macht das Wirtschafts- zum Kulturgut mit unmittelbarer Bedeutung für die gesamte Gesellschaft. Dabei ist Software selbst zunächst ultimativ statisch, sie ändert sich nicht ohne äußere Einflüsse. Aus dem Bezugssystem des in einer dynamischen Welt lebenden Betrachters bedeutet dies, daß Software degeneriert, sie ist vom permanenten Verfall bedroht. Software lebt nur durch die kontinuierliche Benutzung, Weiterentwicklung, Weitergabe und Pflege. Dieser Prozess ist Voraussetzung für die ungeheure Dynamik, die durch Software entfaltet werden kann, und wird bei unfreier (proprietärer) Software unterbrochen; sie wird gleichsam an eine Herz-/Lungenmaschine gekoppelt. Nur die in permanenter, eigenständiger Evolution befindliche Freie Software ist wahrhaft lebensfähig. Software ist also ebenso dynamisch wie auch statisch, die Reihe der Dualismen setzt sich fort. Analog zum Welle-Teilchen-Dualismus der Physik, durch den Photonen sowohl als Teilchen wie auch als Wellen zu betrachten sind, zeigt sich hier ein Software-Dualismus, dessen Verständnis eine wesentliche Aufgabe am Übergang zum Informationszeitalter darstellt. Dabei ist die Frage nach dem Umgang mit dem Wissen letztlich so alt wie die Menschheit selbst. Das älteste mir bekannte Zitat zu diesem Thema geht zurück auf Aurelius Augustinus, der in seinem "De doctrina christiana" schreibt: "Omnis enim res, quae dando non deficit, dum habetur et non datur, nondum habetur, quomodo habenda est." Dieses Zitat zur Frage der Wissensvermittlung, das sich frei etwa mit "Denn jede Sache, die durch Weitergabe an andere nicht verliert, besitzt man nicht, wie man soll, solange sie nur besessen und nicht an andere weitergegeben wird." übersetzen läßt, wurde bereits im Jahre 397 unserer Zeitrechnung geschrieben. In der Vergangenheit war die Verbreitung und Vermittlung von Wissen mit einem zum Teil erheblichen Aufwand verbunden, erst heute besitzt die Menschheit die Möglichkeit, Wissen frei zirkulieren zu lassen. Schenkt man vor diesem Hintergrund der Idee des Software-Dualismus einen zweiten Blick, so wird offensichtlich, daß sich große Teile der Überlegung nicht nur auf Software im Speziellen sondern auch unmittelbar auf Wissen im Allgemeinen anwenden lassen; eventuell also von einem Wissens-Dualismus gesprochen werden muß, den es zu verstehen gilt. Das Verständnis dieser Problematik und die Lösung der dadurch entstehenden Fragen zählen zu den wichtigsten Aufgaben im Zusammenhang mit dem sogenannten Informationszeitalter. Gleichzeitig ist es ein Gebiet, das augenblicklich fast ausschließlich der freien Entfaltung der Interessen einer Minderheit auf Kosten der Gesellschaft überlassen wird. Da nachhaltige Lösungen von der Gesellschaft getragen werden müssen, ist es notwendig, ein Bewußtsein und Verständnis für diese Fragen zu schaffen. Denn nur wenn die Gesellschaft um diese Fragen weiß, kann dauerhaft sichergestellt werden, daß das Informationszeitalter nicht durch die blinde Durchsetzung von Minderheitsinteressen vorzeitig beendet wird. In diesem Sinne handelt es sich bei dem vorliegenden Buch sowohl um einen Meilenstein zum Verständnis und der Sicherung des "digitalen Zeitalters" als auch um eine der vollständigsten Betrachtungen zum Thema Freier Software. Georg C. F. Greve Hamburg, den 20.8.2001